„Marxismus, die zur Schaffung einer propagandawirksamen revolutionären Ideologie in ein dogmatisches System gebrachten Ansichten von K. Marx (1818-83) daher den wissenschaftlichen Anschauungen des historischen Marx nicht immer gleich zu setzen. („Ich selbst, bin kein Marxist.“ erklärte er seinem Schwiegersohn Lafargue.) “
Stichwortartikel Marxismus aus „Wörterbuch zur Geschichte“, Hrsg. Erich Bayer, Kröner Verlag, 1974
„Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Adorno) – ein paar Gedanken für die „Erneuerungsdebatte“
Eine Vorbemerkung: Mich verbindet mit der Partei DIE LINKE emotional recht wenig. Das unterscheidet mich anscheinend von einigen unseren MitstreiterInnen. (Das ist in keine Richtung ein Vorwurf.) Das heißt für mich konkret: DIE LINKE ist ein Werkzeug um Politik zu machen. Kein Selbstzweck, der sich daraus ergibt, unabhängig von der Nützlichkeit des konkreten Werkzeugs, daß man die Notwendigkeit einer sozialistischen/linken Partei als gesetzt ansieht. Und was ist die „Nützlichkeit“? Die real existierende Wirksamkeit bei der Verbesserung der Lebenssituation der Menschen, nicht die Beachtung von roten Linien. Ich plädiere also im Folgenden dafür, sich als ISL nicht darauf einzulassen nur einzelne Erfurter-Programmteile zu überarbeiten und das noch möglichst in breitem Konsens innerhalb der Partei um wenigstens diese Änderungen zu erreichen und um dabei die „Einheit der Partei“ nicht zu gefährden, sondern vielmehr die konsequente Neuschreibung des Erfurter Programms einzufordern als Folge auch eines neuen, besser erweiterten, Denkens . Mir ist bewußt, daß dies das Risiko einschließt, daß sich DIE LINKE im Rahmen dieser grundsätzlichen Klärung zerlegt. Aber nur mit diesem Herangehen können wir mMn in der Gesellschaft wieder nachhaltiges Interesse und Unterstützung für DIE LINKE gewinnen. Das brauchen wir aber schon deswegen, weil allein von Innen heraus eine Reform unserer Partei mir nicht mehr möglich scheint.
Worum muß es gehen?
Es geht nicht nur um ein neues Programm im Sinne einer banalen Aktualisierung. Es geht auch um eine andere Politik (wie sie in unserem ISL Grundsatzdokument skizziert ist), um Anschlußfähigkeit an die Gesellschaft (im Sinne Gramscis „Alltagsverstand“) die wir zunehmend radikal verlieren (bei Umfragen von ARD und ZDF sind wir bundesweit aktuell bei 3%-4%). Und es geht zu aller erst um andere Fragestellungen zu aktuellen Herausforderungen, Lösungsdiskussionen und Lösungsangebote die mit einer korrekten Analyse der realen gesellschaftlichen Verhältnisse beginnen.
Das Individuum (wieder) entdecken
In dem Aufruf von Lederer u.a. „So darf es nicht weiter gehen…“ heißt es: „Unser Grundsatzprogramm (das „Erfurter“) hat für viele politische Alltagsaufgaben in der heutigen Zeit keinen Informationswert.“ Das ist einerseits richtig, greift aber zu kurz. Ein Beispiel: Es gibt im Erfurter Programm den Abschnitt „Wie wollen wir leben?“. Nur geht es da fast nur um das Arbeiten und kaum um das Leben. Es geht nicht um die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen zum Gattungswesen im Marxschen Sinne, sondern, zugespitz formuliert, um die Notwendigkeit solch nützlicher Institutionen wie BR und Gewerkschaft. Also nicht um das Individuum und seine Entfaltung durch Selbstbestimmung und Teilhabe sondern um seine Einordnung als Teil von etwas und in etwas das ihn umhegt. Das Individuum als gesellschaftsveränderndes Subjekt, auch losgelöst von seinem früheren „Proletarierschicksal“ oder gar „Klassenauftrag“ und auch seiner Klasse, gilt es (wieder) zu entdecken. Überhaupt zieht sich durch das Erfurter Programm ein verstaubtes Arbeitsethos das es uns im Übrigen schwer macht, sich von mehr Wachstum zu lösen und in der Klimafrage eine entschiedene Position zu beziehen.
Eine wirkliche Erneuerung muß tiefer gehen
Was wäre statt dessen an Erneuerung gefordert: „Nachzuweisen versuchen, dass im Sozialismus (wenn es der denn sein soll, D.St.) durchaus noch ein lebendiger Funke steckt, wenn seine leitende Idee nur entschieden genug aus seinem im frühen Industrialismus wurzelnden Denkgehäuse herausgeschält und in einen neuen gesellschaftstheoretischen Rahmen hineinversetzt wird.« (Honneth, zit. bei: Hans-Jürgen Urban: »Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr hat« (Perspektiven im Interregnum)“ Und ebenfalls dort: „Wright fasst die Überwindung der Kapitalismus nicht als revolutionären Bruch, sondern als »Untergrabung des Kapitalismus«, die mittels Freiraumstrategien Elemente des Neuen in der alten Gesellschaft fördert.“ Diesen Freiraum für das Individuum muß eine linke Partei definieren. Nicht alleine, sondern im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses. Nur sollte klar sein, dieser Freiraum ist mehr als die Forderung nach der Beendigung der Hartz-Sanktionen. Warum scheuen wir uns, die schon heute eigentlich existierenden Möglichkeiten darstellen und zu fragen, warum diese Möglichkeiten vielen Menschen (und nicht nur im ökonomistisch verkürzten Sinne) nicht zugänglich sind, wer/was das verhindert? Stattdessen versteifen wir uns darauf, selektiv agitatorisch ein Elend des fehlenden Geldes zu beschreiben von dem wir uns Mobilisierungserfolge versprechen, die allerdings selten eintreten. So hat sich die Partei immer weiter isoliert. Kein Wunder also auch, daß wir auf die Bodengewinne rechter Parolen, auf den Rückgang gewerkschaftlicher Organisierung, Entsolidarisierung usw. keine wirkliche Antwort finden. Es reicht die Gewißheit: Immer ist der Kapitalismus schuld. Keine grundsätzliche Frage danach, welche Verantwortung trägt daran auch die Linke/DIE LINKE kann sie doch offenbar keine besseren Angebote machen kann?
Dort hinhören, wo es etwas zu hören gibt
Die Wieder-Anschlußfähigkeit an die verschiedenen aktuellen gesellschaftlichen Diskurse wird uns nur gelingen, wenn eine grundsätzliche Öffnung der Partei zu dem skizzierten anderen Denken gelingt. Dazu müssen wir allerdings auch dahin gehen und dort hinhören, wo schon jetzt Versuche
unternommen werden in Richtung „Untergrabung des Kapitalismus“. Also dorthin, wo Ideen, z.B. ökologisches wirtschaften, alternative Lebensentwürfe überhaupt usw., die sich den Verwertungsbedingungen des kapitalistischen Systems entziehen, in der Praxis ausprobiert werden. Um keine Irrtümer aufkommen zu lassen: Ich meine damit ausdrücklich nicht die sog. Bewegungen. Die sind in ihrer politischen Orientierung nicht weniger randständig als wir. Demonstrieren ist halt gut für die Gesinnung, ersetzt aber keine politische Praxis und Wirkung und vor allem nicht den Kontakt zum Alltagsverstand als Voraussetzung für Wirksamkeit.
Die Aufgaben in Gänze annehmen
Ich weiß, diese Art des von mir hier eingeforderten Erneuerungsprozeß läßt sich nicht durch Antragsänderungen an Leitanträgen des Vorstandes erreichen. Auch nicht durch Personalumbauten. Was nicht heißt, das das auch etwas helfen kann. Aber, es gibt nun mal nichts Richtiges im Falschen. Es braucht also, wie schon gesagt, zu erst einmal eine korrekte Analyse der Gesellschaft die auch mit alten Gewißheiten bricht, bzw. solche wieder aktualisiert: Z.B. eine aktualisierte Debatte über entfremdete Arbeit als Ursache für zahllose Deformationen des Individuums und der gesamten Gesellschaft. Womit wir dann übrigens auch beim historischen Marx und seinen wissenschaftlichen Anschauungen wären. Aber die ISL sollte sich dieser Aufgabe in ihrer Gänze stellen, auch wenn das ein langfristige ist. In aller Bescheidenheit – auch die gesamte gesellschaftliche Linke steht vor der Aufgabe diese Erneuerung so anzugehen. Das stützt die Notwendigkeit die Erneuerung nicht eigentlich als Parteierneuerung anzugehen.
Es kann sein, daß die Partei darüber zerbricht. Nur, eine Partei DIE LINKE die zwar existiert aber in politischer Bedeutungslosigkeit dahindämmert, so als Wärmestube für das sozialistische Gemüt, ist nutzlos für die Verbesserung der Lebensverhältnisse. Da wäre selbst die Reduzierung auf den inhaltlichen Diskurs, der erst einmal nur das Theoriegebäude saniert, nützlicher in sofern er doch die Grundlagen schafft für eine neue, relevante LINKE.
Dieter Storck, 02.05.22